Für alle das Beste

 

Ein Familienstück über das Altern
Von Lutz Hübner unter Mitarbeit von Sarah Nemitz

Die Premiere war am 1. April 2017 im Kulturbahnhof Lemgo.

Es spielen:

Stephan Gottwald, Liane Kreye, Annette Engelking, Kathrin Wolters, Frank Wiemann und Claudia Stenten

Regie: Frank Wiemann

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Lippische Landeszeitung, Montag, 3. April 2017
(Lippisches Kultur- Journal)

Eine meisterhafte Charakterstudie

Premiere: Die Lemgoer Theatergruppe „Stattgespräch“ verbindet mit dem Stück „Für alle das Beste“ den eindrücklichen Appell, das Thema Demenz nicht zu ignorieren. Das Ensemble zeigt eine Glanzleistung!

von Reinhold Sölter

„Jetzt muss es weitergehen, nicht aufregen, tanken Sie neue Kräfte", redet der Hausarzt auf seine Patientin ein, deren Ehemann gerade verstorben ist. Und doch ist seine eigene Hilflosigkeit zu spüren. „Wollen wir mal wieder eine Seele retten" tönt aus dem Hintergrund ironisch der zur Beerdigung angereiste Sohn und signalisiert eindeutig den beliebtesten Familiensport: Sich streiten.

Die Premiere des Stückes „Für alle das Beste" zum Abschluss der 20. Spielzeit der Freien Theatergruppe „Stattgespräch" war am Samstagabend mit sechs Szenen über den Umgang mit alten Menschen kein Unterhaltungsprogramm für das Publikum. Es war aber eine Meisterleistung im Aufzeigen menschlicher Charaktere.

„Der Mensch lebe durch Ehrlichkeit, sonst gerät er unter die Abhängigkeit von gut gewählten Ausflüchten", hat schon Konfuzius empfohlen, doch „Familie Stinner" ist das Parade-Gegenbeispiel für den Sieg der menschlichen Schwächen. Sohn und Tochter sind zur Beerdigung des Vaters eine ganze Woche bei der Mutter und bemerken endlich deren fortgeschrittene Demenz.

Wer übernimmt jetzt die Verantwortung für eine angemessene Betreuung? „Ich muss niemandem beim Sterben zusehen," wehrt die Tochter ab, die sich immer von der Mutter benachteiligt gefühlt hat. Der Sohn liebt das Abenteuer, ist viel unterwegs und hat keine Zeit für die Mutter. Die Haushaltshilfe will sich beruflich verändern und das nicht aufschieben, um „Mama Marlies" zu pflegen. Doch emotionale Ausbrüche der Beteiligten zeigen die Ambivalenz zwischen äußerem Schein und innerer Verantwortung und Gefühlswelt.

„Details wie den stieren Blick oder das Klopfen mit den Handflächen auf den Tisch habe ich in der Verwandtschaft erlebt und in meine Rolle eingebaut", beschreibt Liane Kreye die Annäherung an ihre komplizierte Rolle als demenzkranke Mutter.

„Wir mussten selber beim Spielen Hemmschwellen überwinden, um mit unseren schauspielerischen Mitteln die Demenzkrankheit so realitätsnah wie möglich auf der Bühne zu zeigen," deutet Regisseur Frank Wiemann an, dass bei diesem Stück auch das Publikum Nervenstärke zeigen muss. Ob „Nervenzusammenbruch in Zeitlupe" oder „Für alle das Beste" als Ergebnis der Familienstreitigkeiten erreicht wird, bildet den Spannungsbogen des Theaterstückes.

Die Theatergruppe „Stattgespräch" hat sich schon in der Vergangenheit der Herausforderung gestellt, gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen. Die Zunahme der Demenzkrankheit in Deutschland ist unübersehbar. So lautet die eindringliche Botschaft: „Beschäftigt euch rechtzeitig mit der Thematik, die Möglichkeit, als Angehöriger betroffen zu sein, steigt ständig."

Die Demenzkrankheit war der rote Faden des Theaterstücks; Selbstbetrug, Selbstmitleid, andere mit ausgesprochenen Wahrheiten verletzen, neue eigene Lebensfreude suchen, sogar verzeihen können.

Diese Eigenschaften der beteiligten Charaktere zu interpretieren, war die hervorragend gelungene Leistung der Schauspieler, die dafür den berechtigten ausgiebigen Applaus des Premierenpublikums genießen durften.


Weitere Vorstellungen wird es in der Spielzeit 2017/ 2018 geben!

 

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Lippe aktuell, Mittwoch, 12. April 2017

Berührendes Drama ums Altern

Stattgespräch feiert Inszenierung von „Für alle das Beste“

von Natascha Retzlaff

Wen man liebt, den trägt man gerne – zumindest ein Stück weit. Was, wenn es schwierig wird; der geliebte Mensch seine Erinnerungen verliert und ein ganz anderer zu werden scheint? Was, wenn man dann das eigene Leben umkrempeln soll, um beizustehen? Die freie Theatergruppe Stattgespräch hat mit dem Stück „Für alle das Beste“ das Thema Demenz auf die Bühne gebracht. Schonungslos ehrlich, schwer verdaulich und unglaublich intensiv.

Es erfordert sicherlich eine große Portion Mut, ein so sensibles Thema auf eine so offene und ungeschönte Art und Weise zu inszenieren. Das Stück von Lutz Hübner und ist keine leichte Muse und gespickt mit Zynismus und Sarkasmus über das, was zwischen Angst, Unsicherheit und Verantwortung steht.

„Der plötzliche Tod des Vaters ist für die Geschwister Carola (Annette Engelking) und Klaus Stinner (Stephan Gottwald) erst ein Schock, doch zu erkennen, dass Mutter Marlies (Liane Kreye) sich zunehmend in Demenz verliert, wiegt schwerer. Umso mehr, als die ungleichen Geschwister nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Schuldzuweisungen und Gewissensbisse nagen an beiden. Klaus Stinner gefällt sich weiterhin in der Rolle des jung gebliebenen Frauenschwarms, lebt in Erinnerungen an eine unbeschwerte Jugend, während seine Schwester Carola den Ernst der Lage viel schneller durchschaut und recht schnell merkt, dass sie bei der Pflege ihrer Mutter an ihre eigenen Grenzen stößt. Der Verfall der Mutter ist im Stück erschreckend schnell, dafür aber umso intensiver aufgebaut.

Dass, was sonst einen langen Zeitraum einnehmen kann, muss die Regie (Frank Wiemann) zeitlich raffen. Liane Kreye glänzt mit der Darstellung von Mutter Marlies, die sich immer mehr zwischen Erinnerungen und Realität verliert und schließlich unwillkürlich in die Rolle eines Kindes zurück verfällt. Unfähig, sich um sich selbst zu kümmern, scheint ihr einziger wirklicher Halt ihre polnische Haushaltshilfe Alexa (Kathrin Wolters) zu sein, die die alte Dame fast schon bemuttert. Argwöhnisch beäugt von Klaus Stinner und als reine Hilfe akzeptiert von Carola Stinner, scheint sie als Einzige keine Angst vor der Situation zu haben.

Alexa wirkt anfangs betont aufgesetzt und aufdringlich. Doch neben der betroffen machenden Unbeholfenheit der Geschwister beginnt das Publikum erst zu begreifen, dass genau diese liebevollen Begegnungen, die versteckte Bevormundung und die aufgesetzte Fröhlichkeit das sind, was der sich zum Kind zurückentwickelnden alten Dame Halt und Sicherheit gibt.

Was inhaltlich erst einmal ernst und abschreckend klingen mag, ist sensibel aufgebaut; ein zerbrechliches Konstrukt verschiedener Sichtweisen, Lebensumstände und Gefühle. Die Protagonisten sind nur bedingt in ihrer Lebenswelt gefangen. Das Stück ist wie eine Gratwanderung der menschlichen Seele, die mit der Erkenntnis beginnt, etwas Wichtiges, Selbstverständliches zu verlieren und plötzlich ungeahnte Verantwortung übernehmen zu müssen. Das Gewissen spielt verrückt, kann sich nicht entscheiden.

Geschickt kommen da der Arzt Dieter Nowak (Frank Wiemann) und eine Freundin des Lebemannes Klaus Stinner, Susanne Kübler (Claudia Stenten) ins Spiel. Auf ihre Weise verkörpern sie die Unentschlossenheit zwischen dem „Verantwortung übernehmen“ und „einfach so weitermachen, wie bisher“.

Es ist ein Stück Drama des Alltäglichen, das Stattgespräch hervorragend umsetzt. Das Publikum geht mit. Wirft anfangs den einen oder anderen Kommentar ein, ist voll gespannter Unruhe, bis... ja bis die Situation eskaliert, Mutter Marlies eingekotet aufwacht und verzweifelt nach ihrer eigenen Mutter ruft. Das Spiel auf der Bühne wird unversehens noch intensiver, noch körperlich spürbarer. Vielleicht wie ein langes Atem anhalten und gespanntes Warten auf das Aufwachen aus einem gelebten Albtraum.

Eine fantastische Inszenierung, die mit großer Schauspielkunst unter die Haut geht und zu Recht auch für die nächsten Vorstellungen ausverkauft ist.

Weitere Vorstellungen wird es aber nach der Sommerpause in der neuen Spielzeit 2017/2018 geben.

Ein Muss für all die, die keine Angst vor einem schwer wiegenden Thema und großen, nicht leicht zu tragenden Gefühlen haben. Chapeau!

 

 

Weitere Vorstellungen: siehe Spielplan